Ausnahmezustand Weltmeisterschaft

von Kira, Juni 2010

Zunächst einmal ein fettes ‚Danke‘! Ein Danke an die deutsche Nationalelf, die doch mal locker für den Rest unserer verbleibenden Zeit hier in unserem Viertel Vera, Max und mir mit einem absolut sauberen 4:0 Sieg im ersten Vorrundenspiel die Ehre gerettet hat. Jetzt kann kommen was wolle.
Dann kommt ein Danke an die Stromgesellschaft, die uns netterweise während des Brasilien Spiels bei vollem Haus trotz einer seit 15 Tagen überfälligen Stromrechnung nicht den Strom abgestellt hat.
Und gleich danach kommt ein beinah noch größeres Danke an die brasilianische Nationalmannschaft, die mit einem nicht ganz mit dem von Deutschland vergleichbarem 2:1 Sieg dafür gesorgt hat, dass die Welt sich heute doch erstmal weiterdreht, alle Geschäfte wieder geöffnet wurden und somit die Wirtschaft nicht in einer sportlich verursachten Depression landet.
Hört sich alles übertrieben an? Ist es vielleicht auch ein wenig – und doch ist das Thema Fußballweltmeisterschaft ein etwas ernst zunehmenderes als etwa in Deutschland.
Es ist auf jeden Fall ernster zu nehmen als vielleicht die nachzugehende Schulpflicht oder der öffentliche Dienst. An Spieltagen wird eben nur das Nötigste gemacht, da gibt es Radikaleinsparungen. Und da gehören Unterricht, die stetige Nahrungsmittelversorgung und öffentliche Verkehrsanbindungen dazu (wenn die Busfahrer nicht eh schon seit Wochen streiken würden).

Aber einmal von vorne. Was bedeutet die Fußballweltmeisterschaft hier in Brasilien? Richtig – mehr als hunderttausende gefälschte und zum Teil mit Rechtschreibfehlern gespickte Trikots. Und was zeigen die Verkaufszahlen? Euphorie. Schlichtweg Euphorie und zwar bei allen und allem. Es ist ja hier nicht so, dass am Spieltag mal eben die grün-gelbe Schminke rausgeholt wird, das Trikot frisch gewaschen wird oder vielleicht mal eine von hunderten Brasilienflaggen geschwenkt wird. Nein. Die Euphorie schaukelte sich hier hoch, und das schon seit Wochen. Da wurden zeitweise komplette Straßen abgesperrt, um die als Asphalt zu erkennenden Flächen mit Fifa-Logo, Länderflaggen oder einfach gleich mit einem komplettem grün-gelbem Schachmuster zu verzieren, der abendliche Verkehr mal lahmgelegt, weil die aus hunderten von Plastikfetzen selbstgebastelten Girlanden quer über die Straße am besten ganz oben an der gegenüberliegenden Stromleitung aufgehängt werden mussten – Sicherheitsaspekte hin oder her – oder ein kompletter Emaus-Tag mal damit zugebracht, selbige zu basteln. Von Tag zu Tag wurden Straßen bunter, Menschen zweifarbiger, Gespräche eintöniger und Anspannung und Euphorie größer und größer. Bis sie die letzten zwei Stunden vor dem Spiel fast unerträglich war und sich beim Anstoß beinahe überschlug. Beim 1:0 explodierte die Euphorie. Die Anspannung verabschiedete sich beim 2:0 vollkommen. Beide werden sich nun nach dem etwas dämpfenden 2:1 und dennoch ausgiebiger Straßenparty vor unserer Haustür wieder für den kommenden Sonntag vollkommen neu formieren, um Brasilien mal wieder für 90 Minuten stillstehen zu lassen.
Ja, brasilianische Verbundenheit mit dem Fußball gibt es hier in einer anderen Division. Ich hab‘s doch gesagt: Verbundenheit zum Fußball und deshalb auch Verbundenheit untereinander durch Euphorie. Denn Euphorie verbindet. Und Fußball verbindet. Hier in Brasilien. In Tansania. In Deutschland. Wo auch immer auf der Welt. Daher ist auch bei Euch am Sonntag hoffentlich Daumen drücken für uns hier angesagt, wenn wieder für 90 Minuten alles still steht. Denn im Moment kann noch ohne Gewissensbisse für Brasilien mit gefiebert werden. Bei dem Finale Brasilien – Deutschland müsste auch ich dann wieder neu für mich entscheiden: Sicherheit, mitreißende Euphorie, brasilianische Freundschaft und unendliche Verbundenheit? Oder doch der einsame gegen den Strom schwimmende Fisch? Wir werden sehen.