Aus dem Alltag – fehlt was?

von Kira, Januar 2010

Keine Panik! Kira wächst, gedeiht, nimmt zu, nimmt ab, macht so gut wie jeden Tag Sport, ist physisch vollkommen wohlauf. Sie isst Nutella und Schokolade, jeden Tag Bohnen mit Reis, zur Abwechslung mal Reis mit Bohnen oder wenn es ganz überraschend und ausgefallen wird, wird verrückterweise beides auch gleich vermischt. Sie trinkt Kaffee mit viel Zucker – denn die Verhältnisse sind hier ganz andere – hat auch schon Hühnerherzen probiert (leicht nussig im Abgang) und kennt die teuren Preise vom Joghurtregal im Supermarkt inzwischen schon auswendig. Und wenn es ganz harte Tage sind, dann plündert sie eben die Päckchen aus Deutschland mit Gummibärchen und Vollkornbrot. Die Hitze ist beinah normal geworden für sie, die Sonne knallt zwar immer noch aber die Sonnenbrandgefahr wird Dank Bräunungsgrad immer geringer. Also physisch bei ihr wirklich alles bestens.
Mal ganz ehrlich: Das sind doch genau die Dinge, über die ich in Deutschland mir als erstes Gedanken gemacht habe, wenn mich jemand gefragt hat, was ich denn in einem Jahr am meisten in Brasilien am Äquator vermissen werde? Essen, Winter aber auch Freunde und Familie. Hattet ihr andere Antworten erwartet? Wahrscheinlich waren auch das eure ersten Gedanken. Einfache, ziemlich einfache Gedanken von mir. Ansatzweise naiv. Denn da gibt es einige Sache, die mir erst hier in einer Großstadt in Brasilien richtig klar geworden sind.
Was ist mit Freiheit? Und mit Freiheit meine ich nicht, dass ich hier meine mitteleuropäische Kultur weiterleben möchte, denn dazu bin ich nun wirklich mal nicht hier! Was ich für Freiheit meine? Ein paar Beispiele: Hier ist nichts mit nachts allein von Bad nach Gebhardshagen laufen, nichts mit „lass mal weggehen, wir kommen schon irgendwie nach Hause, zur Not laufen wir“, hier gibt es auch keine große Handtaschenfrage abends, einsame Spaziergänge auf der Verkehrsinsel mitten auf der Hauptstraße am Nachmittag oder Laufsessions am Strand. Denn da gibt es ein ziemlich großes Problem, was all dem hier, wie verschieden es auch ist, einen dicken Strich durch die Rechnung macht: all das ist nämlich gefährlich. Genau! Gefährlich. Hier gibt es vor allem jetzt in der Weihnachtszeit einen Überfall nach dem nächsten, jeder kann eine Geschichte dazu erzählen, ob mit Messer, Waffe oder einfacher Umzinglung, und auch wir drei können jetzt schon ganz vorne mitreden. Seitdem wir eine unschöne Begegnung mit einem Mann und einem Messer hatten, aus der wir drei Dank guter Teamarbeit heile und mit unserem kompletten Geld wieder rausgekommen sind, nur mein linker Havaianer bei der Flucht auf der Strecke geblieben ist, achte zumindest ich nun noch mehr darauf, wo ich hingehe, wann und wie ich weggehe und vor allem wiederkomme, ob ich die vom Auswärtigen Amt empfohlen 50 Reais „Überfalltrinkgeld“ für die Zufriedenstellung im Notfall in der Hosentasche dabei und auch das Taxigeld für die Heimfahrt in der Nacht separat im BH versteckt habe. Ich mache mir auch noch mehr Gedanken darüber, ob es immer sinnvoll ist, sich auf deutsch unterhalten zu müssen und auffällige Rucksäcke und bunte Handtaschen anstatt billiger Supermarktplastiktüten mitzunehmen. Denn wir drei sind nun einmal hellhäutig, blond und allesamt blauäugig und gehen doch glatt als reiche Touristen durch und nicht als Freiwillige, die in der Nähe einer Favela wohnen. Daher sind wir eben doch etwas gefährdeter als dunkelhäutige und –haarige Brasilianer.
Und genau diese Freiheit, ohne sich Gedanken machen zu müssen, sich so gut wie frei bewegen zu können, das ist das, was ich am meisten vermisse. Sicherheit, ein Privileg mit dem ich in Deutschland aufwachse. Und genau das Privileg fehlt mir hier ziemlich.
„Du fragst mich: „Was soll ich tun?“ Und ich sage: „Lebe wild und gefährlich!““ – und wenn ich das eine will, dann muss ich das andere auch nehmen. Und doch, ich bin froh, wenn ich letzteres in Deutschland so gut wie wieder hinter mir lassen kann!